Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, verehrte Gäste, meine Damen und Herren,

wir versammeln uns heute hier in Sankt Goar, an einem Ort, der wie kaum ein anderer von Geschichte geprägt ist. Unser Rhein, unsere Burg Rheinfels, die Kirchen und Denkmäler – sie alle erzählen Geschichten von Jahrhunderten, von Handel und Kultur, aber eben auch von Krieg und Leid. Gerade wir hier am Mittelrhein wissen: Diese Landschaft war nicht immer friedlich. Unsere Region war in vielen Jahrhunderten Durchmarschgebiet von Armeen, ein Ort, an dem Grenzen gezogen, Kämpfe geführt und Menschen vertrieben wurden.

Wenn wir heute am Volkstrauertag zusammenstehen, dann gedenken wir nicht nur der Millionen Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft weltweit – wir erinnern uns auch an die Menschen aus unserer Stadt, die ihre Leben verloren haben. Die Namen auf unseren Gedenktafeln mahnen uns, dass es auch hier in Sankt Goar Familien gab, die ihre Väter, Söhne, Brüder und Schwestern nicht mehr nach Hause zurückkehren sahen.

Und doch ist dieser Tag nicht nur ein Blick zurück, sondern auch ein Blick in unsere Gegenwart. Der Krieg in der Ukraine dauert an, mitten in Europa. Er hat Menschen entwurzelt, Familien getrennt und eine ganze Region ins Chaos gestürzt. Viele Geflüchtete haben ihren Weg auch hierher gefunden, an unseren Rhein, nach Sankt Goar und in die umliegenden Orte. Sie suchen Sicherheit, so wie es unsere Vorfahren in früheren Jahrhunderten taten, als sie von Krieg und Zerstörung betroffen waren.

Wir spüren die Folgen dieses Krieges auch hier bei uns: durch wirtschaftliche Unsicherheiten, steigende Preise, aber auch durch die Frage, wie wir als kleine Stadt den Menschen, die zu uns kommen, gerecht werden können. Und dennoch dürfen wir nicht vergessen: Frieden beginnt im Kleinen. Er beginnt in der Haltung, mit der wir einander begegnen – hier, in unseren Vereinen, in unseren Schulen, in unseren Nachbarschaften.

Meine Damen und Herren, heute möchte ich einen besonderen Blick auf die Rolle der Frauen werfen – damals wie heute. In den Weltkriegen haben Frauen in Sankt Goar das Weiterleben gesichert: Sie haben die Felder bestellt, die Kinder versorgt, die Kirchen und Gemeinschaften zusammengehalten, während die Männer an der Front waren. Doch sie waren zugleich oft unsichtbar, ihre Last wurde selten gewürdigt.

Heute, in den Kriegen dieser Welt, erleben wir erneut, dass Frauen besondere Härten ertragen müssen: Sie sind Opfer sexualisierter Gewalt, sie tragen die Verantwortung für ihre Familien, und sie kämpfen zugleich für eine bessere Zukunft. Aber wir erleben auch, wie mutig Frauen in der Ukraine, in Belarus, im Iran oder in Afghanistan ihre Stimme erheben. Feminismus in Kriegszeiten bedeutet nicht nur Widerstand gegen Unterdrückung – er bedeutet, das Leben zu verteidigen, wo andere es zerstören wollen.

Gerade für uns hier in Sankt Goar kann das eine Inspiration sein. Denn unsere Gemeinschaft lebt von Zusammenhalt – ob beim Winzerfest, beim Weihnachtsmarkt, in unseren Sportvereinen, in den Feuerwehren oder beim Engagement vieler Ehrenamtlicher. Ohne die Stärke der Frauen in unserer Stadt, ohne ihren Einsatz in Familie, Beruf und Gesellschaft, wäre Sankt Goar nicht das, was es ist.

Darum rufe ich Sie heute auf: Lassen Sie uns zusammenstehen, gerade in dieser schwierigen Zeit. Lassen Sie uns nicht auseinanderdriften in Lager, die sich misstrauisch gegenüberstehen, sondern Brücken bauen – so wie der Rhein uns seit jeher verbindet. Lassen Sie uns einander zuhören, auch wenn wir unterschiedliche Meinungen haben. Und lassen Sie uns jenen Menschen Halt geben, die in unserer Stadt Schutz suchen.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, der Volkstrauertag ist ein Tag des stillen Gedenkens. Aber er darf kein Tag der Resignation sein. Er ist ein Tag, der uns erinnert: Frieden und Freiheit sind nicht selbstverständlich. Sie sind ein Auftrag – auch für uns hier in Sankt Goar.

Wenn wir heute an die Opfer der Vergangenheit denken, dann tun wir das nicht nur, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wir tun es, weil wir Verantwortung tragen: dafür, dass sich ihr Leid nicht wiederholt.

In diesem Sinne: Gedenken wir heute in Trauer – und gehen wir morgen in Verantwortung und Hoffnung weiter. Ich danke Ihnen.

Pia Trimpe-Müller, Erste Beigeordnete der Stadt Sankt Goar

Fotos: Marlies Abele